Die unverhoffte Mutmacherin

Gerade waren wir aus Paris gekommen. Wir hatten vier wundervolle Tage verbracht und da es bereits Abend war, entschied ich noch eine Nacht in Berlin zu bleiben. Am nächsten Morgen machte ich mich viel zu früh auf den Weg zum Bahnhof Südkreuz. Also führte mein erster Weg, wie immer, wenn ich an Bahnhöfen Zeit übrig habe, in den Zeitschriftenladen. Ich liebe es mich durch die Zeitschriften zu wühlen, die ein oder andere anzulesen und die verschiedenen Papiere zu tasten. Nachdem ich mich noch mit Backwaren und Kaffee eingedeckt hatte, nahm ich auf einer Bank am Bahnsteig Platz. Es war ein wunderschöner Frühlingstag und ich beobachtete die Tauben, die hier einen ungewöhnlich metallischen Lebensraum gewählt haben. Ich nehme an, es liegt an den Krümmel-Mengen, die beim Warten anfallen, sowie bei mir gerade.

Neben mir saß eine ältere Dame. Sie wirkte etwas arrogant in ihrem Trench mit passender Kopfbedeckung. Ich nahm an, sie ist von der vornehmen Sorte und bewertete sie sofort als distanziert. Nach einigen Minuten nebeneinandersitzen und schweigen, kam eine Frau im Rollstuhl auf uns zu. Sie blieb vor unserer Bank stehen und fragte: „Können Sie mir sagen, wo ich die Wagenreihung finde? Es gab doch immer diese Plakate?“ Die ältere Dame neben mir erwiderte spöttisch: „Das bekommen die hier nicht hin.“ Was für eine sinnbefreite Antwort, dachte ich, dass bringt doch wirklich niemanden weiter. Ich wandte mich an die Frau und sagte: „Man kann das über die App einsehen. Haben Sie die installiert?“ „Nein, ich fahre nicht oft mit der Bahn.“ „Okay, ich kann gern für Sie nachschauen. Welchen Zug wollen sie denn nehmen?“

Die Frau bedankte sich und ich widmete mich wieder meinem Kaffee und der Taubenbeobachtung. Nach ein paar Minuten drehte sich die ältere Dame zu mir und sagte: „Also in Japan hat es sowas nicht gegeben. Da wusste man immer ganz genau, wo man hin muss.“ „Sie waren in Japan?“, platzte es begeistert aus mir heraus. „Ja, ich habe dort sechs Jahre gelebt.“ Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf, denen sich die Dame in der nächsten halben Stunde mit Freude stellte. Ich hörte gespannt zu und wollte alles erfahren, was sie in dieser Zeit erlebt hatte.

„Wieso interessiert Sie das so sehr?“, fragte sie mich irgendwann. „Weil es ein Traum von mir ist, nach Japan zu reisen.“ „Na dann: Nichts wie los!“, sagte sie und lächelte mich an. Die Entschlossenheit dieser Worte war wie eine Einladung für meine Ängste: Ich, allein, so weit weg, was alles passieren könnte und außerdem ist das viel zu teuer. Schon immer halten sich Abenteuerlust und Angst in mir die Waage und stellen eine Pattsituation her, die mich handlungsunfähig macht. „Es ist nicht so einfach“, sagte ich. „Doch ist es. Sie sparen einfach etwas Geld, lernen die wichtigsten Worte, buchen sich einen Flug und reisen nach Japan.“ Ihr Lächeln war voller Überlegenheit und: Sie hatte Recht! Aber warum wollten meine gemischten Gefühle das nicht verstehen? Sie sah mir meine Unsicherheit an und legte nach: „Japan ist ein sicheres Land, ich habe mich nirgends so sicher gefühlt. Sie können mir glauben, ich hatte auch Angst. Ich mag keine Menschenmengen und als ich losfuhr, konnte ich die Sprache nicht. Aber es hat alles funktioniert und es war eine der schönsten Zeiten in meinem Leben.“ Unser Zug fuhr ein und die Dame erhob sich von der Bank. „Machen Sie es einfach, glauben Sie mir. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Sie drehte sich um und ich schob noch schnell hinterher: „Es hat mich sehr gefreut. Vielen Dank.“

Ich weiß nichts über diese Frau außer, dass sie in Japan war. Ich kenne ihren Namen nicht und werde sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Aber ich habe jetzt ein Sparkonto mit dem Titel „Japan“.

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