Die heilende Wirkung der Realität

Die heilende Wirkung der Realität spürte ich, nachdem ich nackt auf einem Kunstoffhocker saß. Von den Sentos, den japanischen Badehäusern, las ich das erste Mal in Mieko Kawakamis Roman Brüste und Eier. Die Erzählerin Natsuko lebt in Tokio und besucht regelmäßig ein Badehaus in ihrem Viertel. Dass die traditionelle Badekultur, die für Ruhe und Entspannung steht, in einer modernen Metropole heute noch gelebt wird, war mir äußerst sympathisch.

Als ich nun selbst in Tokio war, wollte ich die Erfahrung spüren, die ich vom Erzählen kannte. Das Einzige, was mich zurückhielt, war die Nacktheit. In meinem Leben war eine Formel bisher unumstößlich: 

nackt = Privatsphäre, Öffentlichkeit = bedeckt

Diese Formel galt es nun zu erweitern, denn Tradition ist in Japan streng und Badehäuser haben strikte Regeln. Eine lautet kein! Textil. Die Neugier siegte und meine Formel besitzt seither eine neue Größe: 

nackt = Privatsphäre + japanisches Badehaus, Öffentlichkeit – japanisches Badehaus = bedeckt

Nachdem ich meine Kleidung abgelegt hatte, betrat ich das Bad. Kurz dachte ich, ich hätte eine falsche Abzweigung ins Kleinkindabteil genommen. Die Handbrausen im Duschbereich waren in ungefähr einem Meter Höhe angebracht. Anders als in deutschen Hallenbädern, wird in japanischen Badehäusern im Sitzen geduscht. Man sitzt mit dem Blick zur Wand in einer Reihe. Was mich auf meiner Reise schon mehrfach fasziniert hat, war auch hier zu spüren: In Japan herrscht Platzmangel mit Raum für Privatsphäre. Denn es ist eine maximal private Art in der Öffentlichkeit zu duschen und es fühlt sich sehr angenehm an. Das Duschen dient der Reinigung des Körpers, bevor man die öffentlichen Wasserbecken betritt und umfasst auch das Waschen der Haare. Alle halten sich daran, niemand lässt es aus.

Nachdem ich mich gereinigt hatte, ging ich zum ersten Becken. Das Wasser war sehr heiß. Ich ließ vorerst nur die Unterschenkel eintauchen und setzte mich am Beckenrand. Es herrschte eine befreiend natürliche Atmosphäre. Keine starrte, musterte oder tuschelte. Jede war ganz bei sich. Nach zwanzig Minuten hatte ich alle Anspannung fallengelassen. Ich bewegte mich selbstsicher, dachte keinen Moment darüber nach, wie ich aussehe, ob mein Bauch sich ringelt oder die Oberschenkel sich dellen. Ein Zustand den ich im Alltag trotz Kleidung selten erreiche. Ich blieb zwei Stunden und ging mit der Gewissheit, dass ich wiederkommen würde.

Am Abend schrieb ich in mein Reisetagebuch: Heute war ich zum ersten Mal in einem Sento. Ich war eineinhalb Stunden nackt. Es war eine gute Erfahrung. Alle dort sahen aus wie ich und nicht wie auf Insta.

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