Sprechen Sie weiter, ich höre zu

Das erste Mal traf ich sie im Zug. Ich war auf dem Weg nach Nürnberg, hatte einen Doppelsitz für mich allein und machte es mir mit einem Kaffee und der neuesten Ausgabe Psychologie Heute gemütlich. An dieser Zeitschrift hängt die Hoffnung, mich irgendwann verstehen zu können. Nach nunmehr zwanzig Exemplaren, bilde ich mir ein, mein gesamtes Umfeld entschlüsselt zu haben, ich selbst ­– denke mir gern neue Rätsel aus. Sie war wirklich witzig. Witzig auf die clevere Art. Aber auch einfühlsam und verständnisvoll. Über einige ihrer Sätze musste ich nachdenken, denn ich vernahm ganz offensichtlich versteckte Botschaften. Sie war mir sofort sympathisch und ich wollte mehr über sie erfahren. Also blätterte ich an das Ende des Artikels, las ihren Namen, zog mein Smartphone aus der Tasche und befragte es:

„Mariana Leky (* 12. Februar 1973 in Köln) ist eine deutsche Autorin. Ihr Roman „Was man von hier aus sehen kann“ wurde 2017/18 zu einem Spiegel-Bestseller.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/Mariana_Leky )

Okay, jetzt hatte ich einen Plan. Ich würde sie wiedersehen. „Am Wochenende gehe ich in den Buchladen und besorge mir ihren Roman.“ Es folgten drei intensive Tage in denen sich eine starke Zuneigung entwickelte. Was ich am meisten an ihr mochte? Komplizierte psychologische Phänomene und verzwickte emotionale Zustände werden durch sie zu einfachen, alltäglichen Bildern. Ihre Worte sind dabei so leicht und einfühlsam, dass sie direkt vom Kopf ins Herz rutschen. Jede Figur, benimmt sie sich noch so seltsam, gewinnt dadurch Verständnis. So lehrt sie mir Nachsicht.

In den kommenden Wochen und Monaten stellte mir Frau Leky die Herrenausstatterin vor, unterrichtete mich in Erster Hilfe, erzählte mir Geschichten aus der Sprechstunde und zeigte mir die verschiedenen Arten von Kummer. Was ich dabei gelernt habe? Unfassbar viel (!):

(!) Dass es Notfälle gibt, die unsichtbar sind, auch wenn man direkt davorsteht und dass man in solchen jemanden braucht, der einen anspricht.
(!) Dass Gespenster immer gelungener sind als die Leute dahinter.
(!) Dass etwas, das zerbricht nicht hätte so weitergehen können, auch wenn man das glaubt.
(!) Dass alles okay ist, so lange sich die Zeit in Ablaufdaten messen lässt.
(!) Dass Sprechstundenhilfen reflexartig nein sagen müsse, wenn sie das Wort Termin hören.
(!) Dass man auch bei einem Zahnarztbesuch auf ordentliche Unterwäsche achten sollte.
(!) Dass es gut ist, ab und an ein bisschen Welt rein zulassen.
(!) Dass man marode Stellen durchaus bearbeiten sollte, weil es dann einmal anstrengend ist, aber nicht das ganze Leben lang.
(!) Dass nervige Stimmen verschwinden, wenn man Dinge ausspricht.

Liebe Frau Leky,

vielen Dank für nachhaltige Erkenntnisse, hochgezogene Mundwinkel, stundenweise Alltagsflucht und müheloses Empathietraining. Ich hoffe, dass ich Gelegenheit habe, Ihnen erneut zu begegnen.

Ein Fan.

3 Kommentare

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Liebe Katha.
Das ist ja toll! Ich finde Deine Begegnung mit der Autorin und die gewonnenen Erkenntnisse sehr toll geschrieben… zunächst steckte für mich ein wanderndes Geheimnis im Text und so fragte ich mich erst, wer „sie“ ist und glaubte dann, Du hast die Zeitschrift getroffen. Bis ich verstand, dass es Frau Leky war 🙂

Und ich habe Deine Erkenntnisse bestaunt und mich über die eine oder andere Erkenntnis gefreut, dass sie über Dich zu mir gefunden hat, ohne das Buch zu lesen 🙂

Liebe Grüße Lisa

Es braucht keine Entschuldigung an der Stelle – ich fand das „wandernde Geheimnis“ sogar spannend und es hat meinen Forscherinnen-Instinkt angesprochen 🙂

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