Die ungefragte Aufklärerin

Vor zwei Wochen traf ich Frau Wilke beim Bäcker. Wir wohnen in derselben Hood und grüßen uns beim aneinander Vorbeijoggen: Das verbindet. Ich mag Frau Wilke. Sie grüßt schon von Weitem und hat immer ein breites Lächeln im Gesicht. Wenn ich Frau Wilke sehe, bin ich sofort gut drauf und denke: „Eigentlich ist das Leben doch ganz schön.“ Ich beneide sie ein wenig um ihren standhaften Frohmut, meiner knickt trotz Meditation und Dankbarkeitstagebuch regelmäßig ein. Aber heute ist ihr Lächeln etwas kleiner. Man muss genau hinschauen, aber wer sie kennt, kann den Unterschied ausmachen.

„Frau Wilke, hallo! Schön Sie mal wieder zu treffen. Wie geht es Ihnen?“ „Ach, Bernd geht’s nicht so gut. Er war letzte Woche im Krankenhaus.“ Bernd ist Frau Wilkes Ehemann und genauso sportlich wie sie, nur nicht ganz so fröhlich. Aber das übernimmt Frau Wilke glatt für beide. Sie erzählt mir, dass ihr Mann plötzlich Schmerzen hatte. Ein Kollege rief glücklicherweise sofort einen Krankenwagen, denn es war eine Arterie verstopft, eine der wirklich wichtigen Sorte und die hätte bald nichts mehr durchgelassen. Am Ende war es gerade noch rechtzeitig, aber der Schock sitzt tief. Die Wilkes sind wirklich beneidenswert fit. Ich bekomme regelmäßig ein schlechtes Gewissen, wenn ich sie wahlweise mit Laufschuhen, Rennrad oder Wanderstöcken treffe. Wenn Frau Wilke mir die Trackingdaten ihrer neuesten Aktivität aufzeigt, werde ich vor Verlegenheit ganz still. In solchen Situationen hält sich mein Selbstwert an die yogische Weisheit: „Ich wohne eben in einem nicht sehr ausdauernden Körper.“

„Wir leben gesund und bewegen uns täglich. Wie kann das sein?“ sagte Frau Wilke zu mir, während ihre Augen mich verzweifelt, aber fordernd, anschauten. Pech, Alter, Schicksal oder einfach das ungerechte Arschgesicht namens Leben. Sie verlangte nach einer Erklärung. Ich kann sie ihr nicht geben und denke auch, dass es sonst niemand kann. So ist unser Gehirn, es mag keine ungelösten Fälle. Es ist verdammt kontrollsüchtig und gibt erst Ruhe, wenn es eine Lösung gefunden hat. Und es zieht sein Programm straight durch: Es trotzt den Sprüchen, die wir an Wände kleben, in News-Feeds speichern oder auf die Haut tätowieren – wir müssen es immer und immer wieder ermahnen.

„Das Leben ist leider nicht gerecht. Es tut mir sehr leid, was Ihnen passiert ist.“ Das mit der positiven Einstellung, die man trotzdem haben sollte, verkneife ich mir, da Frau Wilke darin viel besser ist als ich. „Aber es geht Ihrem Mann jetzt besser?“, wollte ich mich nochmal versichern, als ich die Worte: „Hallo Frau Wilke, lange nicht gesehen“, hinter mir hörte. Ich drehte mich um: „Wow, die ist aber schicki für Samstagmorgen“, dachte ich noch, da stand sie auch schon neben mir. „Ich hab das mit Ihrem Mann gehört, das tut mir wirklich leid.“ „Wir können es uns einfach nicht erklären“, erwiderte Frau Wilke. Und dann trug die Frau neben mir, deren Parfümkonsum die frische Morgenluft beiseiteschob, die einzig logische Erklärung vor. Die, die zurzeit für alles herhalten muss, weil sie am nächsten liegt, nur eine Armlänge entfernt und für einen sicheren Halt greifbar. Die Boje, die bei Not über Wasser hält: Die Impfung. „Ich sage Ihnen, dass ist die Impfung, ich höre sowas seither immer öfter.“ „Hm, die Impfung?“, murmelte Frau Wilke. Ich denke mir, „Na wenigstens ist die Impfung sachlich, ohne Gefühle und merkt nichts von ihrem Sündenbockdasein.“ Da mir Kommunikation in der Früh nicht leicht über die Lippen geht und mein Gemüt nicht die Betriebstemperatur für Grundsatzdiskussionen hat, verabschiede ich mich und laufe zurück zu meiner Wohnung. Während ich die Augen vor der noch tief stehenden Sonne zusammenziehe, die mir wohltuend das Gesicht wärmt, denke ich: „Hoffentlich komme ich nie in die Verlegenheit, nach der Boje greifen zu müssen.“

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