„Schon so spät? Fuck! Jetzt muss ich mich beeilen“, ich wischte den Insta-Feed beiseite, warf das Handy aufs Bett, richtete mich auf und sprang ins Bad, dessen Eingang sich praktischerweise direkt neben meinem Einzelbett befand. Unter der Dusche klarte ich langsam auf und konnte Gedanken fassen: „Den Bus, den du rausgesucht hast, den schaffst du nicht mehr. Das nächste Schiff fährt erst am Mittag. Okay: Dann machst du dich jetzt in Ruhe fertig, isst ein Müsli und läufst in die Stadt.“ Jetzt, da ich einen Plan hatte, rutschte die Anspannung mit dem lauwarmen Wasserstrahl von meinen Schultern.
Es fällt mir schwer, das Alleinreisen. Es konfrontiert mich mit meinen Ängsten und Vorurteilen. Deshalb habe ich meine Augen lange Zeit vor dieser Möglichkeit verschlossen. In akuten Anfällen von Fernweh habe ich es mir immer mal wieder vorgenommen: „Mach es einfach. Was soll schon passieren?“ Diese Überzeugung ist verschwunden, sobald ich am Ende des Buchungsprozesses angelangt bin und es einfach nicht schaffe, „kostenpflichtig buchen“ zu klicken. Ohne auch nur einen Muskel anzusteuern, fange ich, allein durch die Kraft meiner Gedanken, an zu schwitzen. Nun hatte ich es geschafft. Tagsüber war ich allein unterwegs und am Abend traf ich Sarah. Es war sozusagen Alleinreisen in der Light-Version.
Frisch geduscht, gesättigt und motiviert verließ ich mein Hotelzimmer. Vor dem Fahrstuhl wartete bereits eine alte Dame mit Rollator. „Guten Morgen“, sagte ich. „Guete Morge. Gell, Sie kommen aus Deutschland? Sind Sie in den Ferien?“, wollte die Dame von mir wissen. „Ich besuche eine Freundin, die in der Schweiz lebt. Und Sie? Warum sind Sie hier?“ „Ich wohne hier.“ Jetzt war ich verwirrt. Ich war fest überzeugt in einem Haus nur für Gäste, also Bewohnern auf Zeit, zu sein. „Ich dachte, dass hier sei eine Ferienunterkunft.“ „Nein, Sie sind hier in einem Altersheim. Nur zwei Apartments werden an Gäste vermietet.“, erklärte sie mir. Irgendwie bereitete es mir ein komisches Gefühl, in einem Altersheim gelandet zu sein. Ich konnte es nicht einordnen, blieb still und war froh als ich den Klang vernahm, der den Fahrstuhl ankündigt. Im Erdgeschoß angekommen, verabschiedete ich mich und wünschte der Dame einen schönen Tag. Ich trat aus dem Fahrstuhl. Ich trat vor die automatisierte Schiebetür. Ich trat in einen herrlichen Sommertag.
Als ich über das Gelände lief, vorbei an dem Gebäude indem ich gerade wohnte mit seinen großen Fenstern und meinem neuen Wissen, spürte ich eine Freiheit. Eine Freiheit, die sonst nicht spürbar ist, weil sie noch nie nicht da war. Nicht jeder Mensch, der in diesem Gebäude lebt, kann einfach zur Tür herausspazieren. Diese Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Plötzlich lag mein Privileg ausgefaltet zur vollen Größe vor mir. Ich bin gesund, kann mich autonom und frei bewegen, bin finanziell gesichert. Das Alleinreisen kam mir plötzlich wie ein Geschenk vor und meine einzige Aufgabe war es, es anzunehmen. „Wieso stellst du dich eigentlich so an? Kann doch echt nicht so schwer sein.“ Meine Ängste wirkten plötzlich sehr klein und unbedeutend – ein bisschen dumm sogar.
Das Gefühl begleitete mich den ganzen Tag. Ich fühlte mich leicht und unbeschwert auf meinen Wegen. Ich hoffte, es mir eine Zeit lang bewahren zu können. Dieses Gefühl, dass meinen Ängsten den Platz nimmt, die mir in diesem Moment so lächerlich vorkamen und die so real sind, wenn das entschlossene Handeln fällig wird. Am Abend dieses Tages buchte ich meine erste Fernreise nur für mich. Ich hatte den Moment der Erkenntnis genutzt, Mut gefasst und wartete nun auf meinem kleinen Balkon bei einem kühlen Glas Weißwein darauf, die Panik begrüßen zu dürfen.