In vollen Zügen genießen oder der Friedensnobelpreis geht an: Noise-Cancelling

Tief einatmen, alles aufnehmen. Mit einem Seufzer ausatmen, alles loslassen. Noch zweimal so. Was klingt wie eine yogische Atemübung, ist die Zusammenfassung der letzten vier Wochen. Ich habe drei wunderschöne europäische Städte bereist, erlebte Kultur, Kulinarik, Architektur, wurde inspiriert, mit verschiedensten Menschen konfrontiert. Zwischen den Trips zog es mich in die Natur. Stille, grün, blühen, klare Gedanken. Ich brauchte eine Pause, musste mich neutralisieren. Es ist wie beim Atmen. Was gebraucht wird bleibt, alles andere darf wieder gehen. Erst dann ist der Zug vollständig. Jetzt bin ich ja die, die Begegnung predigt. Die, die sagt: „Es ist wichtig andere Menschen auszuhalten.“ Dabei bleibe ich, aber es braucht Verschnaufpausen. Das wurde mir während meiner Trips klar gemacht. Besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Gab es die Möglichkeit einen Sitzplatz zu reservieren, dann tat ich das: im Ruhebereich. Jetzt möchte man meinen, ein Bereich der mit Ruhe bezeichnet wird, ist ruhig. Dem ist nicht so. Auch in diesem Bereich gibt es sie, die Beschäftigten, die Wichtigen, die Business-Reisenden. Sie tippen pausenlos auf ihrer Tastatur. Ich frage mich, wie viel kann es denn zu schreiben geben oder sitzen in Zügen immer nur Romanautoren? Wobei das Klacken der Tastatur die dezente Art der Teilhabe ist. Videokonferenzen, nicht selten ohne Kopfhörer, erlauben das vollständige Eintauchen ins Business der Mitreisenden. Natürlich gibt es auch die, die den Ruhebereich zum Telefonieren verlassen. Die ihre Kreise vor der automatischen Schiebetür ziehen und sie einmal pro Minute zum Öffnen animieren. Aber nicht nur das Gehör ist involviert, es kommen auch andere Sinne in den Genuss. Einige Passagiere nutzen die Bahnfahrt vornehmlich zum Essen. Da wird schon mal der Döner mit Zwiebeln und Knoblauchsoße ausgepackt oder ein kleines Bierchen aus der Dose gekippt. Gern auch vor 12 Uhr. So richtig spaßig wird es dann, wenn feierwütige Kleingruppen den Beginn der Party in den Zug verlegen, ihn in ein 4D-Kino verwandeln und alle Sinne einbeziehen.

Wo viele Menschen zusammenkommen, braucht es Rücksicht, dachte ich, als wir gerade in einen Bahnhof einfuhren. Mein Blick fiel auf eine Frau, die, zum Aussteigen bereit, Stellung vor den Türen bezog. Sie drückte den Knopf zum Öffnen der Tür. Dann nochmal. Dann nochmal. Dann hämmerte sie wie verrückte auf den Knopf ein. Ein letzter Stoß nach vorn deutete das endgültige Stehen des Zuges an, der Knopf signalisierte seine Bereitschaft durch grünes Licht, die Frau drückte erneut und die Türen öffneten sich. So lässig wie dieser Knopf müsste man sein, schoss es mir durch den Kopf. Selbst entscheiden, wann man auf Empfang ist und wann nicht.

Und wenn man die Umgebung nicht so einfach ausblenden kann? Zum Glück leben wir im 21. Jahrhundert und besitzen fortschrittliche Technologie. Ich setze meine Kopfhörer auf, halte einmal lange gedrückt und tauche ein in die wohltuende Stille. Noise-Cancelling ist Technologie, die das friedliche Miteinander fördert. Jetzt müssen wir noch was gegen unangenehme Gerüche erfinden. Dann können wir in vollen Zügen genießen.

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